Veddel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Fotos: Franziska Nast)

 

 

 

DIE GLEICHZEITIGKEIT DER ANDEREN

 

Zunächst hatte Rahel Bruns eine Handvoll winziger Köpfchen, kleiner als ein Kinderfingernagel, ausgeschnitten aus Fotokopien fotografischer Gruppenportraits und in kleine Zellophanbriefchen gesteckt, Freunden und Leuten direkt aus der Veddel, die sie kennengelernt hatte, gegeben, zusammen mit einem Klebestift und der Bitte, sie auf selbst ausgewählte Flächen im öffentlichen Raum zu kleben und den Ort ihrer neuen, flüchtigen Präsenz fotografisch festzuhalten. So fanden die nahezu gewichtslosen, unscheinbaren Schwarzweißportraits eine neue Gegenwart, vielleicht abgewaschen vom nächsten Regen, entfernt von Gebäudereinigern, überklebt von Reklamen, möglicherweise jedoch in ihrer stillen Präsenz lange Zeit verharrend und immer wieder einmal erstaunt bemerkt von eiligen Passanten, die sich, ihnen nähernd, einen vielschichtigen Perspektivwechsel erlebten: die Aufdringlichkeit übergroßer Werbeposter mit ihren selbst aus der Ferne verschlingenden, ökonomisch regulierten Spiegelungsimperativen wich einer intimen Nähe zu den mikroskopisch kleinen und zugleich fern bleibenden Unbekannten; den Platz maskenhafter Klischees nahmen urplötzlich wirkliche Andere ein, gerade weil sie fremd und wie aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit wirken mochten. Die Boten dieser fotografischen Migranten mögen sich auf ihrem Weg, mit den Briefchen in der Tasche, wie die Träger eines äußerst zerbrechlichen Werts gefühlt haben, dem der Unersetzlichkeit jedes einzelnen Menschenwesens, egal ob sie aus gänzlich anderen Lebenszusammenhängen kamen oder Nachbarn in den winzigen Portraits erkannten.

Während eines zweijährigen Studienaufenthalts auf der Veddel hat Rahel Bruns viele Fotos von Bewohnern dieses zu Unrecht zum fernen Vorort distanzierten Teils von Hamburg gemacht, von Schulklassen und Jugendlichen, Gruppen von Erwachsenen und Alten, von alteingesessenen Einwohnern und in den letzten Jahrzehnten hier Angesiedelten aus den unterschiedlichsten Weltgegenden, sei es aus ost- oder süd- europäischen, aus lateinamerikanischen oder afrikanischen Ländern. Die Veddel ist nicht nur ein zentrumsnaher Hamburger Stadtbezirk mit hohem Anteil von Einwanderern; seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war es auch Transitpunkt für Auswanderer aus Mittel- und Osteuropa, die mit dem Schiff weiter nach Amerika wollten. So fand die Künstlerin auch in Archiven der Stadt fotografische Dokumente dieser Migrantenströme. – Rahel Bruns’ Fotoprojekt fokussiert nicht einen isolierten sozialen Brennpunkt, eine sensible Zone, wie man derartige Stadtteile euphemistisch in   anderen Großstädten der Welt nennt. VEDDEL, wie ihr Künstlerbuch lakonisch benannt ist, wird zu einer vielschichtigen Metapher der Kehrseite der Zivilisation, Hohlraum und Rückseite der zeitgenössischen Wirklichkeit, eine Art ens realissimum, das sich den Maskeraden einer linguistisch beschönigenden Multikulturalität und allen Prozessen des Untergrabens der Einheit des Menschlichen widersetzt.

VEDDEL, Rahel Bruns’ Künstlerbuch, gibt uns so nicht einfach einen Einblick in die Gegenwart dieser Anderen; wir können vielmehr zugleich unsere eigene Existenz darin gespiegelt sehen. So wie die Meisten wohl in die Kamera geschaut haben, mit nach außen oder nach innen gerichtetem, manchmal auch gesenktem Blick, fühlen wir uns nun angeschaut oder in einer gar nicht so viel anderen Lage als diese mal isoliert, mal fern zueinander, mal in ephemeren Gruppen wie in einem leichten Wind- hauch über die Seiten treibenden Portraitierten. Die Konfigurationen lesen sich wie eine musikalische Notation, die dem chaotisch Zwanglosen einer Dynamik von sich Nähern und Entfernen folgt. Fragilität und ein humoristischer Anflug von Behauptung gehen in einander über. Als Betrachter mag man sich fühlen, als erinnere man sich an die eigene Existenz wie an ein rohes Ei in der Hand. Rahel Bruns hat mit diesem Projekt zudem ein überraschend neues Kapitel in der Geschichte der Portraitfotografie aufgeschlagen. Alle Bildniskunst wollte das Einmalige eines Menschen festhalten, eine Aufgabe, die im 19. Jahrhundert die Fotografie übernahm.

Die oval ausgeschnittenen Köpfchen der Veddeler lassen an die Bildgattung der Portraitmedaillons denken und zugleich an diejenige der Gruppenportraits. Allerdings: von ersterer und von letzterer unterscheidet sie das Auftreten der Individuen in aleatorischen Haufen. Hinzu kommt die sensible Entscheidung der Künstlerin, alle Aufnahmen flüchtiger als repräsentative Fotos zu zeigen, erstens durch die Distanz, welche die grauen Fotokopien erzeugen, und sodann als informelle Gruppen. So gelingt es ihr, zwischen Individuum und Gruppe keinen Schnitt zu machen. Jedes Köpfchen zeigt nicht nur seine individuelle Einzigartigkeit, sondern zugleich seine einzigartige assoziative Freiheit. Die über zweitausend aufgenommenen Kinder und Alten, Frauen und Männer, Jungen und Mädchen, Einheimische und Zugewanderte demonstrieren auf diese Weise, wie es möglich ist, sich allen selbst gewählten oder erzwungenen Einsperrungsmilieus zu widersetzen, wenn die soziale Kommunikation auf so viel Überraschungen, Zufälle und Ungeplantes sich einläßt, dass kein Lebensmoment dem anderen gleichen und niemand von der Beteiligung an einem Theatrum mundi, das diesen Namen verdient, ausgeschlossen werden müsste – warum auch? Ja, warum eigentlich?

Das verblüffend Neue an dieser Form des fotografischen Gruppenportraits liegt also darin, dass der Limes einer Miniaturpräsenz des Einzelnen sich durchaus mit dem Auftritt als unüberschaubar Vielen verträgt, ohne dass ein Einzelner die Vielen majorisieren oder umgekehrt die Vielen einen Einzelnen zum Idol erheben müssten.

Ursula Panhans-Bühler